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Nicole Fischer - Expertin für Lernen und Familie

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In meinem Blog schreibe ich über die Themen Schule, Lernen und Familie. Sieh dich gern um. Über Kommentare und Anmerkungen freue ich mich!

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2024-10-18

Mein ältester Schüler, oder: Erfolg auf Umwegen

Ich möchte dir heute von Ingo erzählen. Ingo kontaktierte mich, da er meine Hilfe brauchte, denn er wollte endlich lernen, wie man richtig liest und schreibt. Ingo war 58 Jahre alt und funktionaler Analphabet.

Funktionaler Analphabetismus bedeutet, dass ein Mensch zwar einzelne Buchstaben oder Wörter lesen und schreiben kann, allerdings nicht zusammenhängend, so dass es ihm z.B. nicht möglich ist, auch kürzere Texte zu erlesen. In Deutschland können etwa 12,1% der erwerbsfähigen Bevölkerung (das sind ca. 6,2 Millionen Menschen) nur unzureichend lesen oder schreiben. (Quelle: Fachstelle für Grundbildung und Alphabetisierung)

Ingo war der Jüngste von neun Geschwistern. Seine Eltern hatten keine Zeit für ihn, er „wurschtelte sich so durch“, wie er es ausdrückte. In der Schule interessierte es niemanden so wirklich, dass er mit dem Lesen- und Schreibenlernen nicht hinterherkam. Man sagte ihm, Lesen und Schreiben „liege ihm halt nicht so“. Er erzählte mir, dass er sich so „durchmogelte“, doch irgendwann ging es nicht mehr und er verließ die Schule mitten in der neunten Klasse ohne Abschluss.

Er konnte ein paar Wörter lesen und schreiben, jedoch viel zu wenige, um durch den Alltag zu kommen. Er ließ sich Tricks einfallen: Ging er zu Behörden, so wickelte er sich vorher einen Verband um den Arm, damit er eine Ausrede hatte, um nicht schreiben zu müssen. Bestand die Gefahr, dass er etwas lesen musste, so erzählte er schon gleich, dass er seine Brille vergessen hatte. Er sagte mir, das sei so anstrengend, dass er teilweise morgens nicht aufstehen wollte. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, auf die Idee, das Lesen und Schreiben noch einmal richtig zu lernen, kam er gar nicht. Man hatte ihm in der Schule ja deutlich gemacht, dass er dafür zu unbegabt sei.

Doch dann kam die Wende: Er bewarb sich auf eine Stelle mit unbefristetem Arbeitsvertrag. Völlig ohne Hoffnung ging er zum Vorstellungsgespräch, natürlich mit Verband um den Arm und ohne Brille. Es ging um eine Stelle im Bauhof einer größeren norddeutschen Stadt und Ingo ging nur zum Vorstellungsgespräch, weil ein Freund ihn dazu drängte – er selbst rechnete sich überhaupt keine Chancen aus. Doch der Mensch, der ihm in diesem Gespräch gegenübersaß, sah mehr als die Tatsache, dass Ingo nicht lesen und schreiben konnte. Er sah, dass Ingo sehr sympathisch war, und er fand es sehr beeindruckend, dass er, trotz seines Handicaps, tadellose Bewerbungsunterlagen dabeihatte. Er hörte heraus, dass Ingo harte Arbeit gewohnt war und nicht ohne Stolz erzählte Ingo ihm schließlich, dass er bei seinen anderen Jobs noch nicht einen Tag wegen Krankheit gefehlt hätte. Und es passierte das Unglaubliche: Ingo wurde eingestellt.

Jeden Tag mussten die Arbeiter des Bauhofs einen kleinen Bericht ausfüllen, in dem sie auflisteten, was sie am Tag getan hatten und ob es irgendwelche besonderen Vorfälle gegeben habe. Ingo war davon freigestellt, es wurde kein weiteres Wort darüber verloren. Ingo sagte mir, er hätte sich in seinem ganzen bisherigen Leben niemals so wertgeschätzt gefühlt. Und dann reifte sein Entschluss: Wenn er es schaffte, eine unbefristete Stelle zu bekommen, die ihn ausfüllte und zufrieden machte, dann müsste er es doch eigentlich auch schaffen, das Schreiben und Lesen zu lernen!

Und so kamen wir zusammen. Ich habe in den 16 Jahren, in denen ich bisher als Lerntherapeutin arbeite, niemals einen so euphorischen Schüler gehabt wie Dirk. Anfangs kam er einmal die Woche. Wir begannen wie im Anfangsunterricht, erarbeiteten die Buchstaben, die Laute. Bald wusste er, welcher Laut zu welchem Buchstaben gehörte und konnte Silben lesen und schreiben. Einmal die Woche reichte ihm nicht mehr. Wir erhöhten das Pensum auf zwei Termine in Woche und er bekam jedes Mal Hausaufgaben mit. Nicht, dass ich sie ihm aufdrängte, nein, vielmehr bestand er darauf. Intrinsische Motivation in ihrer reinsten Form.

Nach ein paar Monaten lasen wir Kinderbücher und Ingo schrieb die Texte ab. Eines Tages hatte ich einen Brief im Briefkasten. Eine Seite, von Ingo in seiner schönen, fast gemalten Schreibschrift geschrieben. Ganz unten stand: Das ist mein erster Brief.

So ging es weiter. Ingo war unermüdlich. Nach eineinhalb Jahren begann er, einen Krimi zu lesen. Und auf der Arbeit verfasste er nach jedem Arbeitstag kleine Berichte. Eines Tages kam er zu mir und ich merkte, dass irgendetwas passiert sein musste, denn Ingo war total aufgewühlt. Dann erzählte er: Am Abend zuvor hatte er seinem Chef seinen Bericht gegeben und vor versammelter Mannschaft sagte der: „Mensch Ingo, ich wünschte, alle würden so ordentliche und gut lesbare Berichte abgeben wie du!“ Er war so glücklich!

Kurz darauf trennten sich unsere Wege. Wir blieben noch einige Zeit in Kontakt und ich erfuhr, dass er sich Briefe mit seiner Schwester in Kanada schrieb und dass er sich eine Büchereikarte geholt hatte.

Ich bin unglaublich dankbar dafür, dass ich Ingo auf diesem Weg begleiten durfte. Und ich frage mich, wie viel Leid ihm hätte erspart werden können, wenn er in der Schule nicht einfach so „durchgerutscht“ wäre, wie auch heute noch viel zu viele Kinder.

Informationen und Hilfe bei Analphabetismus erhältst du hier: https://alphabetisierung.de/

Admin - 12:29:17 | Kommentar hinzufügen

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