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Nicole Fischer - Expertin für Lernen und Familie

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In meinem Blog schreibe ich über die Themen Schule, Lernen und Familie. Sieh dich gern um. Über Kommentare und Anmerkungen freue ich mich!

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2024-10-18

Wie entstehen Lernblockaden? Oder: Frl. H und die Entdeckung Amerikas

Lernblockaden - Du hast bestimmt schon einmal davon gehört. Doch was ist eine Lernblockade eigentlich und wie entsteht sie? Dazu möchte ich dir heute eine Geschichte aus meiner eigenen Schulzeit erzählen, denn ich hatte sie auch: Eine dicke, fette Lernblockade. Wie es dazu kam? Schuld daran waren Fräulein H. und die Entdeckung Amerikas. Aber ich beginne besser mal von vorn:

Die ersten beiden Schuljahre verbrachte ich wohlbehütet in einer kleinen Grundschule in Eichholz, einem Stadtteil von Lübeck und nur einen Steinwurf entfernt von der damaligen „Zonengrenze“. Ich liebte, nein, ich vergötterte meine Klassenlehrerin Frau L. Sie war sanft und freundlich und hatte immer ein liebes Wort für einen übrig. Ich war eine gute Schülerin, die sehr gern zur Schule ging. Ja, o.k., Mathe war von Anfang an nicht mein Lieblingsfach, aber ich kam ganz gut klar.

Am Anfang der dritten Klasse dann war es mit der Idylle vorbei: Wir zogen um. Nicht weit weg, nur in einen anderen Stadtteil. Aber das bedeutete: Schulwechsel. Welch ein Graus! Ich hatte den tränenreichen Abschied von Frau L. kaum verdaut, als ich meine neue Klassenlehrerin kennenlernte. Zu meiner Überraschung war auch sie wirklich nett. Ich war sehr erleichtert!

Allerdings hielt die Erleichterung nicht lange an, denn dann trat SIE in mein Leben: Fräulein H., meine zukünftige Mathelehrerin. Fräulein H. (auf das „Fräulein“ bestand sie) war eine äußerst beeindruckende, wenn nicht gar einschüchternde Erscheinung. Sie war groß, sehr groß. Dazu nicht wirklich schlank. Sie trug eine aufgetürmte Betonfrisur und hatte eine donnernde Stimme, mit der sie gern Befehle gab. Fräulein H. war sicherlich mit besten Absichten Lehrerin geworden, allerdings wäre sie auf einem Kasernenhof wesentlich besser aufgehoben gewesen. Bei Fräulein H. hieß es: „Stillsitzen! Hände falten! Augen an die Tafel!“ Fräulein H. liebte Spiele wie „Eckenrechnen“ und überschüttete den mit Häme, der als letzter noch in seiner Ecke ausharrte. Wer schwatzte oder seine Hausaufgaben vergaß, den rief sie zu sich ans Fenster. Mit fiesem Lächeln und untypisch leiser Stimme fragte sie dann: „Kannst du von hier aus Amerika entdecken? Kannst du nicht?“ Und dann packte sie denjenigen an den Ohren und zog daran, als wolle sie ihn hochheben. „Und – entdeckst du Amerika jetzt? Nicht? Dann setz dich bloß wieder hin!“

Ich musste nie Amerika entdecken, doch trotzdem hatte das großen Einfluss auf mich. Denn es dauerte nicht lange und ich hatte Angst. Große Angst. Angst davor, Fräulein H. irgendwie aufzufallen, ich überprüfte zehnmal am Abend meinen Ranzen aus Angst, meine Mathesachen zu vergessen, ich saß stocksteif und angespannt da in den Stunden, um ja nicht den Unmut von Fräulein H. auf mich zu ziehen. Doch das Schlimmste an der Sache: Ich konnte nicht mehr rechnen! Sobald Fräulein H. uns eine Aufgabe rechnen ließ, schaltete sich mein Gehirn ab. Mein Herz raste, meine Handflächen wurden feucht. Je mehr ich mich bemühte, desto schlimmer wurde es. Zum Glück ließ meine Sitznachbarin mich in den Stunden abschreiben, so dass das nicht sofort auffiel. Aber die Klassenarbeiten wurden schlechter und schlechter. Meine Eltern sprachen mit Fräulein H. und die meinte, dass sie da nicht viel machen könne, ich sei ja zum Glück ein Mädchen und würde später mal heiraten oder halt Sekretärin werden, da brauche man ja nicht zu rechnen. Von da an war ich Luft für Fräulein H. Ich wurde nicht mehr zum Eckenrechnen nach vorn gerufen, ich musste nicht mehr an der Tafel rechnen oder Hausaufgaben vorlesen. Lohnte ja nicht. Für mich war das geradezu paradiesisch und meine Angst legte sich nach und nach. Was sich jedoch in mir festsetzte war die Überzeugung, dass ich nicht rechnen konnte und das auch nie lernen würde.

Mathe blieb auch in den folgenden Jahren mein großer Stolperstein. Auf dem Gymnasium konnte ich die Fünf in Mathe zunächst mit einer Eins in Deutsch ausgleichen, doch irgendwann ging auch das nicht mehr. Ich verschliss einige Nachhilfelehrer, denn ich war überzeugt davon, dass Nachhilfe mir nichts bringen würde, da ich ja ein hoffnungsloser Fall war. Irgendwann hatte ich die Schulzeit hinter mich gebracht und begann eine Ausbildung zur Buchhändlerin (dem zweitschönsten Beruf auf Erden). Ich hatte Angst vorm Kassieren, da ich sicher war, dass ich das Wechselgeld falsch herausgeben würde. Doch ich hatte sehr liebe Kolleginnen, die mir verschiedene Rechentricks zeigten und mit mir übten, so dass das Kassieren bald kein Thema mehr war.

Am Ende meines dritten Lehrjahres stand ich an der Kasse und sortierte das Wechselgeld, als jemand ein Buch auf den Tresen legte, um zu bezahlen. Ich nahm das Buch, sagte „19 Mark 80, bitte!“, und schaute der Kundin lächelnd ins Gesicht. Doch mein Lächeln fror fest und mein Herz begann zu hämmern. Vor mir stand Fräulein H, sichtlich gealtert, doch unverkennbar. Sie legte mir einen 50 DM-Schein hin und wartete auf das Wechselgeld. Doch es war wie früher: Ich konnte nicht mehr rechnen. Tausendmal hatte ich auf einen 50 DM-Schein heraus gegeben, doch nun ging es nicht. Ich konnte nicht denken. Die Blockade schlug voll zu. Ich kann mich nicht erinnern, ob und wie Fräulein H. zu ihrem Wechselgeld kam, aber ich erinnere mich noch genau an dieses schreckliche Gefühl.

Zum Glück gibt es keine Lehrerinnen und Lehrer wie Fräulein H. mehr. Hoffe ich zumindest. Und ja, das war auch wirklich ein krasser Fall, das gebe ich zu. Aber um eine Lernblockade auszubilden, braucht es keine Entdeckung Amerikas. Da reichen schon ständige Misserfolgserlebnisse. Oder Sprüche wie: „Nun stell dich doch nicht so an, so schwer ist das doch gar nicht!“ Oder Eltern, die beim Üben ständig ungeduldig werden. Irgendwann wollen wir dann nämlich nur noch eines: Vor dieser Situation fliehen! Und das meine ich ganz wörtlich.

Denn in grauer Vorzeit, als wir Menschen uns noch vor Mammuten und Säbelzahntigern in Acht nehmen mussten, war Angst oft lebensrettend. Angst löst sehr viele Reaktionen im Körper aus: Der Herzschlag erhöht sich, der Blutdruck steigt, die Muskeln werden stärker durchblutet, damit wir auf Flucht oder einen Kampf vorbereitet sind, wir atmen schneller etc. Unsere Aufmerksamkeit ist ganz auf das gerichtet, was uns Angst macht. Nachdenken funktioniert in so einem Moment nicht, denn ein Mensch, der sich erst ausführlich Gedanken darüber macht, ob er besser nach rechts oder links läuft, um dem Säbelzahntiger hinter ihm zu entkommen, hätte vermutlich eher schlechte Chancen.

Säbelzahntiger gibt es nicht mehr, aber unser Gehirn arbeitet noch wie damals: Macht uns etwas Angst, so gibt es für das Gehirn drei Möglichkeiten: Kampf, Flucht oder Erstarrung. Die Reaktionen unseres Körpers sind dieselben wie damals, mit der Folge, das Lesen, Schreiben oder Rechnen in dem Moment unmöglich sind. In den meisten Fällen beruhigen wir uns schnell wieder. Sehe ich zum Beispiel eine große Spinne, so bin ich stockstarr für einige Zeit, mein Herz rast und ich kann definitiv nicht klar denken. Irgendwann jedoch wird mir klar, dass die mir nicht ans Leben will, und ich hole jemanden, der sie rausbringt. Dann beruhigen sich mein Herzschlag und meine Atmung und mit dem Denken klappt es auch wieder. So ein Angstgefühl kann sich jedoch auch generalisieren. Dann kann schon nur der Gedanke an Schreiben, Rechnen oder Lesen diese Angstgefühle auslösen und sie ist da, die Lernblockade.

Was du nun tun kannst, wenn dein Kind (oder vielleicht auch du selbst) von einer Lernblockade betroffen ist, dass erzähle ich dir in meinem nächsten Blogbeitrag.

Falls du jetzt übrigens denkst, wieso bietet denn ausgerechnet die mit der Matheblockade Training für rechenschwache Kinder an, dann kann ich dich beruhigen: Vor einigen Jahren, als ich schon einiges übers Lernen und Lernblockaden wusste, wollte ich mir selbst beweisen, dass ich sehr wohl rechnen kann. Und es stimmte: Je länger ich mich mit Zahlen und dem Rechnen beschäftigte, desto mehr Spaß machte es mir. Von meiner Rechenblockade ist so gut wie nichts mehr da. Heute liebe ich es, wenn eine scheinbar kniffelige Aufgabe aufgeht! Mein Herzensanliegen ist es seitdem, so viele Kinder wie möglich vor so einer Blockade zu bewahren.

Haben du oder dein Kind Erfahrung mit dem Thema Lernblockaden? Ich freue mich, wenn du mir darüber erzählst!  

Admin - 12:01:14 | 1 Kommentar

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